In der russischsprachigen Schule in Karlsruhe werden seit Beginn des Kriegs auch ukrainische Kinder unterrichtet
Von Linda Roth
Karlsruhe. Es ist früher Abend. Auf dem Areal des Büro- und Ärztehauses in der Karlsruher Zeppelinstraße sind die meisten Parkplatze leer und nur noch wenige Lichter im Gebaude brennen. Auch im ,,Kreativhaus» herrscht Aufbruchsstimmung. Eltern, die versuchen ihre Kinder abzuholen, und Kinder, die noch nicht so richtig nach Hause wollen. Dazwischen Evgenia Norvatova, sicheres Auftreten, gewinnendes Lachen. Sie ist die Schulleiterin, extra sagen muss sie das nicht. Dass sie hier den Hut aufhat, sieht man.
Das ,,Kreativhaus» ist ein Kultur- und Bildungszentrum , dessen Herzstück die russischsprachige Schule ist. Es wurde 2002 gegründet und befindet sich in den ehemaligen Büros der Apotheker- und Arztebank. Die alten Aktenschranke sind vom Boden bis zu Decke voll mit lnstrumenten, Farben, Kuscheltieren, Bastelpapier und was es sonst noch alles braucht. ,,Das hier ist unser dritter Standort, aber auch hier wird es langsam eng», sagt Norvatova. Aktuell besuchen 400 Kinder von eineinhalb bis 18 Jahren die russischsprachige Schule. Seit dem Ukraine-Krieg sind 60 Kinder dazu gekommen, Tendenz steigend.
Organisatorisch eine Herausforderung für die Schulleiterin, die mit einer Handbewegung um sich herumzeigt und sagt: ,,Ich bin eigentlich immer hier.» In den vergangenen Monaten hat Norvatova Spenden und private Unterkünfte für die Flüchtlinge organisiert. Über den Krieg sagt sie: ,,Wenn wir nichts tun würden, würden wir verrückt werden. Das ist mein Volk, meine Sprache, mein Schmerz.»
Norvatova stammt aus St. Petersburg. Eine Russin, die von Ukrainern als «mein Volk» spricht. Nicht ungewöhnlich. ,,Wir haben eine gemeinsame Kultur, viele Familien haben Angehörige in beiden Ländern und uns vereint die Sprache», sagt sie. «Und wir kochen alle Borschtsch», fügt Norvatova lachend hinzu. Und weil das auch viele der ukrainischen Flüchtlinge, die in Karlsruhe ankommen, so empfinden, führt ihr Weg direkt ins ,,Kreativhaus». Die Kinder würden sich sofort wohlfühlen, erzahlt Norvatova, hier würden die gleichen Lieder wie zu Hause gesungen, dieselben Marchen erzählt.
17 russischsprachige Pädagoginnen und Pädagogen arbeiten im «Kreativhaus». Der Schwerpunkt liegt auf Sprachen, Russisch und Englisch lernen hier schon die Kleinsten. Aber auch Musik, Schach, Mathematik, Tanz, Kunst und die russischsprachigen Kulturen sind fester Bestandteil im Bildungsplan.
Bereits zu Beginn des Kriegs erklärte die Schulleiterin ihre Schule zu «politisch neutralem Gebiet». «Unsere Schule ist Kinderland», sagt sie. Einladungen zu Demonstrationen russischer Gruppierungen, egal welchen Hintergrund sie haben, lehnt sie kategorisch ab. Trotz ihres Bemühens und ihres Engagements ist sie in den Augen mancher der Feind, weil sie Russin ist. Die Schulleiterin erzählt, dass sie Drohanrufe und E-Mails mit rassistischen Beleidigungen bekommen hat.
«Ich habe keine Angst», sagt Norvatova. Eigentlich hatte sie sagen müssen: «Ich habe keine Zeit für Angst. Ich bin mit Integration beschäftigt.» Denn das ist ihr Ziel, schnelle Hilfe, darum geht es nicht mehr.
«Integration», ein Wort, das Norvatova immer wieder verwendet, bittend , anmahnend, wissend . Ein Wort, das verdammt teuer in der Umsetzung ist. Ihr Programm, ,,Hallo Kids», das sie mit ihrem Team in kurzer Zeit für die ukrainischen Kinder aus dem Boden gestampft hat, wird aktuell durch die Spenden der Initiative «Karlsruher Köpfe» finanziert.
«Ohne die ginge es nicht», sagt Norvatova.
Denn auf eine Rückmeldung der Sozial- und Jugendbehörde wegen möglicher Gelder aus öffentlicher Hand, wartet sie noch. Deshalb bezahlen die Einzelhändler und Unternehmer, die hinter «Karlsruher Köpfe» stecken, aktuell die Lern- und Spielgruppen und das Mittagessen der ukrainischen Flüchtlingskinder. Während die Mütter in dieser Zeit ehrenamtlich von einer Psychologin betreut werden. «Ich bin von der Hilfsbereitschaft der Menschen überwältigt», sagt Norvatova. Doch sie weiß, private Spenden sind ein endliches Finanzierungsmodell. Deshalb hoffe sie, bald Rückmeldung von der Behörde zu bekommen.
Norvatova ist eine Mischung aus Pädagogin und Unternehmerin, ihr Fachgebiet «Integration». Mit Weitblick schaut sie auf die aktuelle Situation. Norvatovas mittelfristiges Ziel ist ein multilingualer Kindergarten, ergänzend zu den Angeboten der Schule. Sie weiß auch, was sie dafür am dringendsten braucht: Fachpersonal. Dass das Mangelware ist, kein Geheimnis. Deshalb hat sie für ihr «Hallo Kids»- Programm direkt zwei ukraini sche Pädagoginnen eingestellt, die aus Odessa und Kiew nach Karlsruhe flohen. Integration, die Chance auf eine Win-win-Situation für alle.